Jahrhundertelang waren Glasschmuckperlen wegen ihrer glänzenden Schönheit bei den Ureinwohnerstämmen Südtaiwans begehrt und hatten fast den gleichen Stellenwert wie heute Diamanten. Ein Kunsthandwerk-Studio im Landkreis Pingtung produziert seit fast zwanzig Jahren Glasperlen und erweckt das Interesse für diese Kunstform zu neuem Leben.
In der mythischen Zeit, als die Sonne noch nahe an der Erde lebte, entfachte eine schwangere Frau ein Feuer und setzte einen Topf Wasser zum Kochen von Hirse auf. Als es im Topf zu brodeln und zu dampfen begann, stieß die Hitze die Sonne von der Erde fort. Als sich die Sonne von ihrer geliebten Welt der Sterblichen trennen musste, brach sie in Tränen aus, und diese Tränen fielen auf die Erde und gerannen dort zu Glasperlen. Eine kühner junger Pfauenprinz, der das Herz einer Paiwan-Prinzessin zu gewinnen trachtete, überreichte ihr eine Kette mit diesen Perlen, die mit Mustern so schön wie Pfauenfedern geschmückt waren. Die Perlen rührten die junge Prinzessin, und die beiden heirateten bald.
Diese Geschichte illustriert die Bedeutung von Glasperlen für die Angehörigen des Paiwan-Stammes. Sie zählen Glasperlen, Bronzemesser und Keramiktöpfe zu ihren drei Schätzen, die bei keiner Paiwan-Hochzeit fehlen dürfen. Taiwans Ureinwohnerstämme, besonders die Paiwan(排灣) und die Rukai(魯凱), sind seit Hunderten von Jahren von den leuchtend bunten Perlen wie auch von den Geschichten fasziniert, die mit ihren wieder erscheinenden Mustern verknüpft sind.
Die Tradition der Glasperlen-Herstellung lebt heute in einem Studio in der Gemeinde Santimen(三地門) im südtaiwanischen Landkreis Pingtung fort. Das Dragonfly Bead Art Studio ("Libelle-Glasperlenkunst-Studio") stellt neben neuen Designs acht traditionelle Muster her, die von einer Generation zur nächsten weitergegeben worden waren. Das von Shih Hsiu-chu(施秀菊) betriebene Studio entlieh seinen Namen einem Begriff, mit dem während der japanischen Kolonialzeit (1895-1945) Glasperlen beschrieben wurden. Zwar sind Glasperlen heute nicht mehr so selten wie früher, aber sie sind nach wie vor ein wichtiger Aspekt der Paiwan-Kultur.
In der Vergangenheit konnte man an der Reihenfolge, in der Perlen mit verschiedenen Mustern aneinander gereiht wurden, den Status der Person erkennen, da sie die Grenzen zwischen verschiedenen sozialen Schichten markierten. "Glasperlen wurden als unverwechselbare Kennzeichnung für aristokratische Stammesangehörige verwendet", verrät Chang Hung-shih, Glasperlensammler und Autor mehrerer Bücher zu dem Thema. Während Gold und andere kostbare Materialien von Nicht -Adligen besessen und bearbeitet werden durften, waren Glasperlen laut Chang ausschließlich den Häuptlingen vorbehalten. Im Besitz von Ureinwohnern fanden sich sogar Glasperlen, die aus Chinas Zeit der Streitenden Reiche (475-221 v. Chr.) und aus dem alten Ägypten stammten. "Zahlreiche Glasperlen, zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten produziert, haben im Laufe der Zeit weite Wege zurückgelegt", erklärt er. "Sie sind ein Beweis für eine dynamische Interaktion bemerkenswerten Ausmaßes zwischen verschiedenen Kulturen."
Weil in Taiwan keine schriftlichen Dokumente oder Belege für Materialien, Fertigungsstätten oder nennenswert große Brennöfen für Glasperlenproduktion gefunden wurden, glauben viele Forscher, dass die antiken Perlen der Paiwan und der Rukai exotische Handelsware waren, produziert von Handwerkern anderer Zivilisationen im Westen und in Asien. Viele Paiwan hingegen bevorzugen die These, dass die Perlen von ihren Vorfahren geschaffen wurden.
Nach Ansicht von Shih Hsiu-chu, die auch im Kindergarten unterrichtet, gibt es mehr als eine Antwort auf die Frage, wo die alten Perlen herkommen. Anstatt die Geschichte und Ursprünge der Paiwan-Glasperlen zu untersuchen, widmet Shih ihre ganze Zeit und Kraft der Förderung des Verständnisses für diese wunderschönen Objekte. Das Dragonfly-Studio hat seit seiner Gründung vor 19 Jahren Dutzende von Ureinwohner-Kunsthandwerkern ausgebildet, und einige dieser Schüler haben sich mit der Eröffnung eigener Glasperlenstudios selbständig gemacht. Shihs Studio bildet aber auch weiterhin Ureinwohner aus, die sich dafür interessieren. "Viele Leute haben mich gewarnt, dass ich mir selbst geschäftliche Konkurrenz heranzüchte", lächelt Shih. "Ich denke aber, ein aktiver Markt gibt uns allen eine bessere Chance zum Überleben und schafft eine stärkere Kraft zur Förderung unserer Kultur."
Shih hofft, dass diese Glasperlenstudios den Ort Santimen eines Tages zu Taiwans "Glasperlenheimat" machen werden. Die mehreren Dutzend Kunsthandwerker sind bislang nur eine winzige Minderheit der etwa 50 000 Paiwan -Ureinwohner, die in sieben Gemeinden im Landkreis Pingtung leben. Dank der Bemühungen der Regierung zur Förderung des Fremdenverkehrs in Taiwan ist Santimen in den letzten Jahren zu einem beliebten Touristenziel geworden, wo die Besucher einen Eindruck von der Lebensweise und Kunst der Ureinwohner erhaschen können. Neben den üblichen Kunden ist das Dragonfly-Studio Ziel ganzer Gruppen, die im Reisebus herkommen. Dabei hatte Shih eigentlich nicht unbedingt angestrebt, zur Touristenattraktion zu werden. "Wir haben das Studio eröffnet, um die Menschen zu begrüßen, die unsere Arbeiten bewundern möchten", sagt sie, und genau das tut sie auch.
Zu dem Studio, einem alten Wellblechbau, den Shih und ihr Mann Chen Fu-sheng selbst errichtet haben, gehören ein Café an der Vorderseite und hinten raus die Werkstatt. Dazwischen liegen ein Ausstellungsbereich und ein Büro. Eine riesige Libelle draußen weist den Besuchern den Weg ins Studio, und drinnen sind in den Boden, die Wände und die Möbel zahlreiche Zierperlen eingelassen, sogar an der Decke hängen welche.
Das Dragonfly-Studio ist heute das führende Zentrum der Glasperlenbranche der Insel. 25 fest angestellte Kunsthandwerker -- alles Frauen -- arbeiten von morgens bis abends und produzieren dabei rund 1000 Glasperlen am Tag. Bestellungen für die Glasperlen kommen aus dem ganzen Land, aber auch aus dem Ausland. Eine bedeutende Klientel sind die Japaner, außerdem mehrere taiwanische Luxushotels.

Im Ausstellungsbereich des Dragonfly-Glasperlenstudios sind viele Verwendungsmöglichkeiten für dekorative Glasperlen zu sehen, darunter auch dieser Perlenvorhang.
Shih benutzt die Glasperlen natürlich nicht nur als Zierat für Möbel, Fußböden und Wände, sondern macht daraus in erster Linie Schmuckartikel wie Halsketten, Ohrringe und Schlüsselanhänger. Trotz der schlechten Wirtschaftslage scheint das Studio gut zu gedeihen. "Viele Leute sehen nur die Oberfläche unseres Erfolgs", kritisiert Shih. "Was sie nicht sehen können, ist die ganze harte Arbeit und Mühsal, die wir bis vor knapp fünf Jahren erlebten, als die Öffentlichkeit an Ureinwohnerkunst Gefallen zu finden begann."
In der Anfangsphase arbeiteten nur Shih, ihr Mann und ihr Schwager Seite an Seite in dem Studio. Zunächst waren ihre Kenntnisse bei der Glasperlenproduktion begrenzt, also experimentierten sie mit Materialien und Werkzeug und erweiterten so ihr Können. In den alten schönen Stammesgeschichten war zwar viel von der reichen Vielfalt der Glasperlenmuster die Rede, doch ließen sie nur wenig Rückschlüsse darauf zu, wie diese Muster geschaffen wurden.
Dank der modernen Technologie können Glasperlenhersteller heute mit Fertig-Glasstäben und Gasflammen arbeiten und sind nicht mehr auf riesige Schmelz- oder Brennöfen angewiesen, wie sie in der Vergangenheit benutzt wurden. Shih und ihr Mann entwickelten mit der Zeit ihr eigenes Herstellungsverfahren. Als erstes wird ein dünner Stahlstab mit einer Art Perlpuderteig überzogen und damit gegen Hitze isoliert. Danach werden mit einer über 800 Grad heißen Flamme für die Färbung dünne Glasruten verschiedener Farben aus dickeren zylindrischen Glasstäben gezogen. Der dritte Schritt umfasst die Herstellung des Glasperlenkörpers, wobei Glas aus einem der dickeren zylindrischen Glasstäbe in der Flamme um den hitzeisolierten dünnen Stahlstab gezogen wird. Nach dem Erhitzen wird die noch weiche Rohperle durch Rollen auf einer Steinwalze geformt. Anschließend werden die Muster geschaffen, indem vorbereitete farbige dünne Glasruten auf die Perle aufgetragen werden, zuerst die größeren Farbflächen, dann kleinere. Zum Schluss wird die Glasperle auf der Steinwalze geglättet.
Das Färbeverfahren kann frustrierend sein, weil der Kontakt zwischen den verschiedenfarbigen Glasruten, die alle ihren eigenen Ausdehnungskoeffizienten haben, zum Springen des Glases führen kann. Ein weiteres Problem verursacht der Umstand, dass erhitztes Glas rot glüht, daher ist die endgültige Farbe erst nach dem Abkühlen der Perle sichtbar. Für die Herstellung einer Glasperle und die Färbung braucht ein erfahrener Künstler etwa fünf Minuten, doch die fertige Perle benötigt etwa einen halben Tag zum Auskühlen. Sobald die Perle Zimmertemperatur erreicht hat, kann sie von der hitzeisolierten Stahlrute abgenommen und gereinigt werden.
Zu Anfang verkauften Shih und ihr Mann, der damals Chef der örtlichen Justizpolizei war, ihre Glasperlen nur innerhalb der Paiwan-Gemeinschaft, doch sie hatten eine breitere Vision für die Zukunft. Zwar stieg Shihs Schwager nach einer Weile aus dem Geschäft aus, doch das Paar arbeitete weiter Hand in Hand für den Traum, durch die Glasperlen in der Außenwelt für ihre Gemeinde zu werben.
Shih begann zu vielen Kulturveranstaltungen zu reisen, die oft zur Förderung verschiedener traditioneller Handwerkskünste von unterschiedlichen ethnischen Gruppen organisiert wurden. Über ein Jahrzehnt lang führte ihre Arbeit sie bei Reisen um die ganze Insel. "Wir wussten genau, wo wir hinwollten, und wir haben unser Tempo nie verringert", erinnert sich Shih. Doch vor zehn Jahren kam Shihs Mann bei einem Unfall ums Leben, so dass sie sich fortan allein um das Studio und den Traum kümmern musste.
Die "Tochter der Berge", wie Shih sich selbst nennt, wollte sich nicht unterkriegen lassen. "Mein Mann und ich hatten neunzehn Jahre voller wunderbarer Erinnerungen zusammen", erzählt sie. "In den Jahren seither waren diese Erinnerungen für mich die Quelle meiner Kraft. Wir wollten unsere Glasperlen auf der ganzen Insel bekannt machen, und ich arbeite immer noch daran, auch wenn er nicht mehr da ist." Sie reiste bis 2001 zur Werbung für ihre Paiwan-Perlen um die Insel, dann gestaltete sie ihr Studio neu und begann, ein ruhigeres Leben zu führen. Das Dragonfly-Studio erhält heute mehr Bestellungen für Glasperlen, als es produzieren kann. Unterdessen entdeckte Shih auf dem Markt nachgeahmte Versionen ihrer Entwürfe, die in anderen Ländern hergestellt worden und viel billiger waren. "Das macht mir keine Sorgen", winkt sie ab. "Hinter uns steht unsere Tradition und Kultur. Wie sollten Nachahmer dagegen konkurrieren können?"
Dass Shih Rückschläge und Herausforderungen in hilfreiche Energie verwandelte, hat im Laufe der Jahre ihren Weg geebnet. Sie hat ihre eigenen Ziele: hochwertige Glasperlen herstellen, der Konkurrenz immer um eine Nasenlänge voraus sein, und das Handwerk innerhalb der Paiwan-Gemeinde erhalten. Der Glasperlensammler Chang Hung-shih vermerkt, dass die Perlen aus Shihs Studio viele Glasperlenfreunde aus dem Ausland angelockt haben. "Das Sammeln von Glasperlen ist ein wenig wie Philatelie", philosophiert er. "Wir wollen das, was selten und echt ist, etwa die spezifischen Kreationen einer bestimmten Person während einer besonderen zeitlichen Periode."
Indem Shih Hsiu-chu die Tradition der Glasperlenherstellung mit dem modernen Leben verbindet, macht sie ihre Perlen zu Sammelstücken. "Ich tue nichts weiter, als mich meinem Leben ernsthaft und ehrlich zu stellen", charakterisiert die Studioinhaberin. "In diesen Glasperlen steckt mein gesamtes Leben." Und wenn man es so sieht wie Shih, dann kommt jeder Besucher, der ihr Studio wegen der Glasperlen aufsucht, auch deswegen, um an ihrem Leben und den schönen Paiwan -Geschichten teilzuhaben.
(Deutsch von Tilman Aretz)
Dragonfly-Glasperlen-Kunststudio
No. 9, Chung-cheng Road Section 2, Dorf Santi,
Gemeinde Santimen, Pingtung 901, Taiwan ROC
Tel. #886-8-779 2856